Dokumentarfilme von Barbara und Winfried Junge

Retrospektive DEFA-Dokumentarfilm 1961-1990 unter Leitung von Günter Lippmann
Am Freitag, dem 17. Oktober 2014 um 19:30 Uhr setzt der Verein Kulturhaus Heidekrug 2.0 seine Retrospektive "Lebenswelten eines untergegangenen Landes" unter Leitung von Günter Lippmann mit den Filmen Wenn ich erst zur Schule geh' (1961, 14 Minuten) und Jochen – ein Golzower aus Philadelphia (2001, 119 Minuten) von Winfried Junge und Barbara  Junge fort. Der Eintritt beträgt 5 Euro. Barbara und Winfried Junge werden anwesend sein.

Nach einem Dramaturgie-Studium an der Filmhochschule wird Winfried Junge (Jahrgang 1935) im Jahr 1958 Regie-Assistent bei Karl Gass, seit 1961 macht er Dokumentarfilme in eigener Regie. In 55 Berufsjahren entstehen zahlreiche Filme unterschiedlichster Thematik. Am Anfang 1961 schickt ihn sein Mentor Gass ins Oderbruch, es entsteht ein kurzer Film über die Einschulung von ABC-Schützen im kleinen Dorf Golzow.
 
Aus dem Film „Wenn ich erst zur Schule geh' “ entwickelt sich ein Mammut-Projekt. Die „Chronik der Kinder von Golzow“ dreht Winfried Junge von 1961 bis 2005. Zunächst in den ersten Jahren allein mit seinem Kameramann Hans-Eberhard Leupold, später dann gemeinsam mit seiner Frau Barbara. Es entstehen 20 Filme, über 300 km Film- und Videomaterial wurden gedreht, was einer Zeitdauer von 200 Stunden entspricht. 43 Stunden Material finden davon in den Filmen Verwendung.
 
Getreu seinem 1962 von Egon Erwin Kisch entlehnten Credo 'Nichts erregt und überzeugt mehr als das Leben selbst' enttäuscht Winfried Junge von Studio und SED, eine Hochglanzpostkarte über sozialistische Erziehung und die Schule eines ganz normalen Dorfes zu schaffen. Ihn interessieren der Alltag, die Sorgen und Träume, die Erfolge und Niederlagen der Golzower. Durch das Festhalten an dieser Konzeption wird die Chronik ein einmaliges Dokument . ... Schon damals zeichnet sich ab, was Junges und Leupolds Dokumentation zu einem Schatz der Filmgeschichte macht: Im Spiel mit der Zensur loten sie das Machbare aus, um an die Menschen wirklich heranzukommen, ihnen gerecht zu werden.

Mit Blick auf seine Kollegen in der künstlerischen Arbeitsgruppe document resümiert Junge später:

"Für die Art der Fortsetzung des Golzow-Projekts gab es nicht immer Verständnis. Haltungen, Interviewfragen und Kommentierungen wurden kritisiert, Texte überhaupt beargwöhnt. ... Letztlich – heute sehe ich das deutlicher – kamen dabei auch „angepasste“ Filme heraus. Aber ohne Absicherungen wäre die Langzeitdokumentation wohl früh aus dem Schaufenster genommen worden. Ich gehörte damals zu den weniger Kritischen. ... Ja und die 'Kinder von Golzow' waren nur als Chronik und nicht als Problemstudie denkbar, um es noch einmal zu sagen. Wir lebten alle mit der Zensur. Wenn ich die Filme an einen Punkt geführt hätte , wo Schule und Erziehungssystem infrage gestellt worden wären, hätten sie 'Golzow' geerdet." Zitiert nach „Das Prinzip Neugier“ DEFA Dokumentarfilmer erzählen, Verlag Neues Leben, 2012

Beim Leipziger Dokfilmfestival lernt Winfried Junge 1966 seine spätere Frau Barbara kennen, die dort im Studenteneinsatz dolmetscht. Nach ihrem Diplom zieht die gebürtige Thüringerin mit ihrer Tochter nach Berlin um, wo sie im DEFA-Dokumentarfilmstudio als Synchronregisseurin bei der Auslandsinformation anfängt. Parallel arbeitet sie sich am Schneidetisch ein, gewinnt Gefühl für alles, was einen Film ausmacht. Mit zahllosen Karteikarten schafft sie ab 1978 Übersicht über die in zwei Jahrzehnten gedrehten Materialien der Golzower Chronik, wofür Winfried Junges langjährige Schnittmeisterin Charlotte Beck angesichts nachfolgender anderer Filme nie Zeit finden konnte. Ab 1983 schneidet Barbara Junge die Filme ihres Mannes und steht seit 1992 als Ko-Autorin und –Regisseurin an seiner Seite im Nachspann.

Winfried und Barbara Junge drehen in den 80er Jahren weiter und sind dabei herrlich frei. Sie filmen erstmals für das Archiv. Vorzeigen brauchen sie das Dokumentierte ja erst 1999 (zum 50. Jahrestag der DDR), und da könnte, müsste, würde die DDR sicher schon eine reformierte sein, wie sie hoffen. Sie fangen dabei auch ein, was man auf der Leinwand noch nicht zeigen und diskutieren kann: Eine Stimmung der Sättigung, der Lethargie und des Stillstands in einem Land, in dem die Ideale des Sozialismus auf der Strecke bleiben. Gorbatschows Perestroika, nach der Junge in seiner gewohnt vorsichtigen Art fragt, weckt, wie sich in dem Interview mit Gudruns Vater, dem LPG-Vorsitzenden, an der Oder zeigt, aber auch auf dem Land einen Hoffnungsschimmer. Das Geld für die Produktion reicht bis zur Währungsunion und erlaubt, den Untergang der DDR zu dokumentieren. 

Nach "Lebensläufe" (1980) wird "Drehbuch: Die Zeiten" (1993) zum erfolgreichsten unter den Golzow-Filmen im vereinten Deutschland. Die Junges konzentrieren sich jetzt auf eine Filmreihe, die nun fern jeglichen agitatorischen Pathos’, aber auch fern jeglicher Larmoyanz den "Lebensläufen" der Golzower bis in die Gegenwart folgt.

Einer davon ist "Jochen – ein Golzower aus Philadelphia" (2001). Der Film erzählt von einem Jungen, der in einem Brandenburgischen Ort dieses Namens geboren wird und nur deshalb für ein Jahr unter die Golzower Erstklässler gerät, weil sein Vater als Landwirtschaftsfunktionär hier eine Zeitlang die Maschinen- und Traktorenstation leitet. Junge findet Jochen als Melkerlehrling wieder. Er filmt den Dreizentnermann nicht nur immer wieder im Beruf, sondern auch als Familienvater mit seinen drei Kindern in Bernau, bis dieser ihn 1998 mit der Kamera nicht mehr bei sich einlassen will.

2008 - zu ihrer letzten Berlinale - verabschieden sich Barbara und Winfried Junge von ihrer Arbeit, die mit Fug und Recht ein Lebenswerk genannt werden  kann,  mit diesem Statement: „Als der Ältere von uns beiden die 'Kinder von Golzow' erstmals drehte, war er 26, war die Jüngere 17 und ging noch zur Schule. Was mit einem sehr endlichen 15-Minuten-Film im Golzower Kindergarten begann, wuchs sich über viereinhalb Jahrzehnte zu einer 'unendlichen Geschichte' aus, der die eigene Lebenszeit sowieso irgendwann ein Ende setzt und die wir deshalb lieber nach Plan beenden."

Auf die Frage "Seid ihr eigentlich nach 19 Filmen – 9 davon in der DDR – mit  'Golzow' wirklich am Ende?" antwortete Barbara  Junge später: "Unsere Negativ-Schnittmeisterin Bärbel Gummert sagte: >Ich musste den Tisch anhalten, als ich zum ersten Mal im Abspann eines Films von euch das Wort 'Ende' las.<   Es ist wirklich so, nur glaubt uns das keiner. Es fehlt uns schon etwas, aber man sollte auch loslassen können. Andererseits kann man auch sagen, wir haben die Tür mit Anstand zu gekriegt. Es wurde immer schwerer Geld zu bekommen, weil die Förderinstanzen sagten: >Was denn schon wieder Golzow? Die haben doch gerade etwas bekommen.<   Aber dieses 'Schon wieder? '  kannten wir ja bereits aus DDR-Zeiten.“ Zitiert nach „Das Prinzip Neugier“ DEFA Dokumentarfilmer erzählen, Verlag Neues Leben, 2012

Quelle, sofern nicht anders angegeben: DEFA-Stiftung

Die Retrospektive DEFA-Dokumentarfilm 1961-1990 unter Leitung von Günter Lippmann wird gefördert durch die DEFA-Stiftung, die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung und die Sparkasse Barnim.
geschrieben von gisbertamm am 13.08.2013 | 23:49 Uhr
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